Die Quadratur der Öffentlichkeit
Werke für Streichquartett mit und ohne Orchester
von Beethoven, Lachenmann, Nunes und Feldman
Beethoven: Große Fuge op.133
H. Lachenmann: Tanzsuite mit Deutschlandlied
Emmanuel Nunes: Chessed IV
Morton Feldman: String Quartet and Orchestra
© by Martin Hufner 1997
Musik für die Besetzung Streichquartett zu komponieren,
ist seit Haydn eine ganz besondere Herausforderung für alle Komponisten
gewesen. In der Musik für Streichquartett realisiert sich kompositorische
Kunst auf höchstem Niveau. Es Musik für Kenner - sie spielt sich gewöhnlich
in intimen Zirkeln ab.
Musik für eine große Orchesterbesetzung zu komponieren,
ist seit Haydns Symphonien eine ganz besondere Herauzsforderung für
alle Komponisten gewesen. In der Orchestermusik realisiert sich kompositorische
Kunst auf höchstem Niveau. Es ist Musik für Liebhaber - sie spielt sich
für gewöhnlich im großen öffentlichen Rahmen ab.
Sowohl in der Orchester- wie in der Streichquartett-Literatur
der letzten 200 Jahre sind von den Komponisten ganz eigene Lösungen
gefunden worden; die Reaktion der Öffentlichkeit hat dabei deutlich
mitentschieden, welche kompositorischen Wege die Komponisten einschlugen.
Im 20. Jahrhundert hat sich das etwas geändert, weil in
große Teile der avancierten Musikproduktion ihren unmittelbaren Bezug
zur großen bürgerlichen Öffentlichkeit verloren haben. Sie hat dies
auch infolge der Emanzipation der Technik über die Wirkung, der Produktion
über die Rezeption. Es wird nicht mehr prinzipiell unterschieden, ob
man ein Streichquartett oder ein Orchesterwerk schreibt. Für beides,
ja für die gesamte Musikproduktion gilt, daß keine Note nur mit Rücksicht
auf ein großes Publikum produziert wird.
Dennoch hat die Musikgeschichte ein ausgeprägtes Gedächtnis.
So hat jede musikalische Gattung ihre Geschichte. Wie so oft im geschichtlichen
Kontext bedingt jede Entwicklung in eine Richtung, die Rückentwicklung
in anderen. Und es ist keinesfalls so, daß eine spätere Entwicklung
die jeweils frühere in sich aufnimmt und in sich birgt. Wenn man also
ein modernes, neu komponiertes Streichquartett komponiert oder hört,
hört und komponiert man Vergangenes mit.
Wenn Komponisten nun auf die Idee verfallen, Werke für
Streichquartett und Orchester zu schreiben, so entstehen merkwürdige
Dissonanzen. Denn erstens werden zwei unterschiedliche kompositorische
Strategien unter einen Hut gebracht (Initimität und Öffentlichkeit).
Zweitens stellt sich die rein technische Frage, weshalb ein Streichquartett
zu einen Orchester hinzutreten soll, da es doch ohnehin ein Bestandteil
des normalen Orchesterapparates ist (wer z.B. kennt nicht die wunderbaren
Streichquartett-solo-Passagen in einzelnen Mahler-Symphonien). Denkt
man schließlich an die Gattung der Solo-, Doppel oder Tripelkonzerte,
stünde man vor erstaunlichen Alternativen: Es wäre wohl unvorstellbar,
daß vier ausgeprägte Solisten in schönen Einklang mit dem Orchester
zu bringen wären, andererseits aber das Streichquartett an sich auch
als einzelnes Instrument auffaßbar wäre. Doch führt es nicht weit, sich
spekulativ über Sinn oder Unsinn dieser Kombination von Orchester und
Streichquartett zu vergewissern. Man hat ja Beispiele aus der jüngsten
Zeit.
Helmut Lachenmann: Tanzsuite mit Deutschlandlied
Helmut Lachenmann schrieb seine "Tanzsuite mit Deutschlandlied"
in den Jahren 1979/80. Es ist ein Stück in fünf Abteilungen, bei denen
diverse Tanzformen gestreift werden wie Walzer, Marsch (eine sehr eigenwillige
Tanzform), Siciliano, Valse lente, Gigue, Tarantella, Polka und Galopp.
Dazwischen sitzen Überleitungen, Aria, Einleitungen und vorneweg ein
Vorspann. Alle Teile gehen ohne Pause ineinander über. Freilich klingen
die Tänze bei Lachenmann weder heiter noch traurig, nicht sentimental
oder lebensfroh. Die Tänze sind bei ihm wie durch einen Filter verdeckt,
allein Rhythmus und Tonfall schimmern durch, lassen prismatisch die
"alte" Musik in der "neuen" aufgehen und verschwinden.
Der Boden des Vertrauten, dem ein hörendes Einverständnis zugrunde liegt,
liegt zwar unter einem, aber er ist mit dichtem Nebel verdeckt. Das
gilt insbesondere auch für das Zitat des Deutschlandliedes, das überhaupt
nicht zu hörend zu erkennen ist.
Das Solostreichquartett ist durch und durch virtuos gestaltet,
während die Streicher des Orchesters oft als Klanghinterlegung fungieren,
aber auch durch ihre rein quanitative Übermacht besonders scharfe Akzente
setzen.
Ludwig van Beethoven: Große Fuge op.133
Mit einer Formidee spielt auch Beethovens letzter Satz aus den Streichquartett
op.130, das später durch ein Rondo ersetzt wurde. Jetzt steht sie für
sich als op.133 im Werkkatalog: Die "Große Fuge" in B-Dur.
Sie ist ein so unerhörtes Stück Musik, deren Substanz in der Antwort
auf die Frage bestehen könnte: Wie ist es möglich, musikalische Form
zu entwickeln, ohne der formbildenen Prinzip der Harmonik sich unterzuordnen.
Die Antwort hat Beethoven mit dem Werk mitgeteilt. Es fängt nicht in
B-Dur an sondern läuft von G über F zum Ziel. Das Fugenthema selbst
nimmt sich aus als wolle es nicht gerne harmonisch festgelegt sein.
Von dem Verlust der harmonischen Grundstimmung ist dann später auch
die rhythmische Struktur des Themas gekennzeichnet - mal setzt es knapp
vor der Zeit, mal knapp dahinter ein. Schließlich sei hingwiesen, daß
Beethoven seine einzige "anständige" Kadenz ganz am Ende bringt;
und dort ist es eigentlich zu spät um formbildend zu wirken. Dieses
Werk schreitet fort, indem es sich selbst zerlegt und ist dennoch alles
andere als eine bloß theoretische Musik.
In einer Fassung für Streichorchester wird dieses Werk
seine Spödheit verlieren. Die technisch-praktischen Instrumentalprobleme,
die die "Große Fuge" auch heute noch für die Instrumentalisten
darstellt, können sicherlich ausgeglichen werden. Der Klang wird satter
und runder: "angenehmer". Und hier zeigt sich dann der Unterschiede
zwischen dem populären Wirken der Orchestermusik und dem intim-experimentellen
der Streichquartettmusik aufs deutlichste. Aber wer würde entscheiden
wollen, daß einer der beiden Wege der bessere wäre.
Emmanuel Nunes: Chessed IV
Mit dem Spiel zwischen Quartett und Orchester befaßt sich in vielen
Schattierungen das jüngste Werk dieses Konzertes: "Chessed IV"
von Emmanuel Nunes, komponiert 1992. Es gehört in eine Reihe weiterer
Kompositionen mit dem gleichen Haupttitel: Chessed I für 16 Instrumente
(1980), Chessed II für 16 Instrumente und Orchester (1982) und Chessed
III für Streichquartett (1991). Instrumentationstechnisch nutzt Nunes
die unterschiedlichesten Kombinationen des Orchesterklanges. Streichquartett
solo, Orchester solo, Solistische Bläser und Quartett kombinieren sich
als Kammerorchester, Streichquartett und solistisches Orchester oder
als Orchestergruppe (d.h. die Streicher des Orchesters mal als Gruppe
und als Einzelinstrumentalisten). Im Verlauf des Stückes wird das Orchester
zusehends in seinen Einzelfarben differenziert, die Klanggruppen gehen
in ein polyphones Stimmengewirr über. Das Stück bezieht sich literarisch
auf ein Teil der kabbalistischen Lehre, namentlich dem Hauptsstück "Sohar".
Dor wird berichtet von dem Tod einesRabbiners erzählt und von einem
Licht, dessen Intensität einzig das "Nichtsehen" gestatte.
Morton Feldmann: String Quartet and Orchestra
Bei Feldman spielt die Organisation von Orchester und Streichquartett
keine bedeutende Rolle. In dem Stück "String Quartet and Orchestra"
von 1973 ist es die typisch Feldman'sche Klangpoetik, der sich dann
die Musiker unterordnen müssen. Ist Nunes Stück "hektisch"
und "nervös" so ist Feldman Stück ganz ausgeruht. Er beläßt
den Klängen den Raum, den sie beanspruchen. Er gibt ihnen die Farbe,
die sie zu faszinierenden Ereignissen macht, er läßt sie aufeinander
folgen, wie sie zusammenpassen und er mischt sie. Es ist eine Musik
mit allem Wohl und Wehe, das die bloß subjektiv-hörend-komponierte Musik
kennt. Was dem einen als ausgeruht erscheint, ist für den anderen lahm.
Martin Hufner |