Die Geburt der Anarchie aus dem Geist der
Einsamkeit
oder: Ist wirklich alles möglich?
Produktion BR2 für 14.10.97 Thema Musik Redaktion Loeckle
Musikbeispiel 1: Detlev Glanert: Kleine Kuddel-Daddeldu-Musik
(2 Minuten)
Sprecher 1:
Die Neue Musik gilt heute als Statthalterin eines wie auch immer gearteten
Individualismus, als Trägerin der Fackel musikalischer Freiheit im Reich
einer übergroßen Populärkunst oder der politisch durchorganisierten
Welt.
Der Diskurs über Freiheit ist ein zentraler Gegenstand
der musik-ästhetischen Diskussion der Gegenwart. Dabei stellt sich die
Frage, wie es geschehen konnte, daß gerade im 20. Jahrhundert dieses
Thema so zentral wird? Warum wird der Ruf laut nach einem Musikstil
der Freiheit", einer musique informelle", einer a-seriellen"
Musik, einer neuen Tonkunst"? Was führt die neue Musik zu
dieser Selbstbefragung, warum ist neue Musik nicht einfach selbstverständlich?
Seit der Aufklärungsprozeß der Moderne eingesetzt hat,
steht die komplette Organisation der Gesellschaft zur Disposition. Forschung
und Wissenschaft, namentlich Marx und Darwin, haben im 19. Jahrhundert
die Welt von den alten Göttern befreit. Das freie Wirtschaftleben vertritt
die Stelle der alten Götter und mit ihm schreitet unaufhaltsam ein Rationalisierungsprozeß
voran, dessen Kehrseite mit Sinn- und Freiheitsverlust gekoppelt ist.
Die Welt des 19. Jahrhunderts mag vielleicht subjektiv noch als von
einem oder mehreren Göttern regiert empfunden werden, das gesellschaftliche
Leben selbst unterliegt längst anderen Gesetzen. Das wirklich Bewegende
ist das System der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft. Hier
ist alles einer Rationalität unterworfen, die nur als technische zu
fassen ist, einer Rationalität, die ihre Handlungsroutinen allein auf
Zwecke ausrichtet. Daneben steht relativ hilflos und ohne bedeutenden
Einfluß der "Glaube". Er ist noch geduldet als Kompensationsmedium
einer entfremdeten Welt, als ein, wie Marx es nannte, "notwendig
falsches Bewußtsein". Was die Philosophie zwar schon längst analysierte,
die Abdankung einer höhreren Gewalt, das stellt das moderne Wirtschaftssystem
auf die Füße. Dies kennzeichnet die Geschichte des 19. Jahrhunderts.
Diese neue moderne Welt legt sich über alles, natürlich
genauso über das private wie das kulturelle und das gemeinschaftliche
Leben. Dadurch wird eine zunehmende Rationalisierung aller Lebensbereiche
forciert. Georg Simmel hat diese gesellschaftliche Entwicklung folgendermaßen
zusammengefaßt. 1903 schreibt er in dem Aufsatz "Die Großstädte
und das Geistesleben":
Sprecher 2:
"Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen
aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart des
Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten,
der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren (...). Mag
das 18. Jahrhundert zur Befreiung von allen historisch erwachsenen Bindungen
in Staat und Religion, in Moral und Wirtschaft aufrufen, damit die ursprünglich
gute Natur, die in allen Menschen die gleiche ist, sich ungehemmt entwickle;
mag das 19. Jahrrhundert neben der bloßen Freiheit die arbeitsteilige
Besonderheit des Menschen und seine Leistung fordern, die den Einzelnen
unvergleichlich und möglichst unentbehrlich macht, ihn aber dadurch
um so enger auf die Ergänzung durch alle anderen anweist; mag Nietzsche
in dem rücksichtslosesten Kampf der Einzelnen oder der Sozialismus gerade
in dem Niederhalten der Konkurrenz die Bedingung für die volle Entwicklung
der Individuen sehen in all dem wirkt das gleiche Grundmotiv:
der Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlichen-technischen
Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden."
Sprecher1:
Dieser Mechanismus hatte die gesamte Gesellschaft erfaßt. Auf der einen
Seite macht er es möglich, z.B. vermittels der Eisenbahn in viel kürzerer
Zeit als früher miteinander in Kontakt zu treten, er revolutioniert
die hygienischen Zustände, bringt Licht in die Wohnungen. Aber dieser
Fortschritt stellt die Einzelnen nicht wirklich zufrieden. Er verbessert
die Lebensumstände, nicht aber das Leben.
Sprecher 2:
"Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender
geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel
zu verwandeln, jeden Teil ihrer in in mathematische Formeln festzulegen,
entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens, die ihm
die Geldwirtschaft gebracht hat."
Sprecher 1:
Mit großem Scharfblick hat Gustav Mahler diese Situation musikalisch
dargestellt. In seiner Musik stehen häufig die musikalischen Welten
des 19. Jahrhunderts nebeneinander. Keine dieser Welten fügt sich mit
den anderen reibungslos zusammen. Nebeneinander klingen sie sich fremd
in den Ohren. In seiner Dritten Sinfonie wird dies an verschiedenen
Stellen deutlich. Kraß auf jeden Fall im Nacheinander des vierten und
fünften Satzes. Auf der einen Seite, die düstre Vertonung der trunkenen
Weltverlassenheit des mit Hilfe eines Textes von Friedrich Nietzsche,
auf der anderen, unmittelbar folgend der naive Ausdruck religiöser Gebundenheit
von Knaben gesungen. Beide Sphären entstellen sich im Nebeneinander.
Der verlorene Mensch ist verloren, der Gläubige Mensch ist allein noch
als naiver vorstellbar. Ein Gespür für diese desillusionierende musikalische
Darstellung hatten seinerzeit weniger die Apologeten der Musik Mahlers
als vielmehr die Kritiker. Hermann Kretzschmar beschrieb die beiden
Sätze in seinem populären "Führer durch den Konzertsaal" so:
Sprecher 2:
"Der vierte Satz (...) knüpft in der kurzen Einleitung
an die Verlegenheitsstelle am Schlusse des Hauptthemas vom ersten Satz
an und bringt dann über die Worte von Nietzsche ein Altsolo, das an
eine getragene, halb tiefsinnige Melodie einige seltsame, altväterische
Schnörkel knüpft, so daß man nicht recht weiß, ob man das Stückchen
für Ernst oder Scherz rechnen soll. // Beim fünften Satz besteht dagegen
gar kein Zweifel, daß Mahler parodieren will. Der Knabenchor, der uns
hier von einer Begegnung erzählt, die zwischen Jesus und Petrus im Himmel
stattfindet, tut dies in einem so kecken, unwürdigen Ton, daß es nicht
noch des Gestammels auf bamm, bimm bedurfte, um über die
geradezu frech antikirchliche Tendenz des Satzes aufzuklären. Hier hört
der Spaß auf, und es kommt an Mahler ein peinliches Stück Shylock zum
Vorschein."
Musikbeispiel 2: Mahlers dritte, Satz Nr.
4, (die letzten veir Minuten ) eventuell unter dem Text schon einblenden
(ab Absatz zuvor), bis etwa eine Minute des fünften Satzes
Sprecher 1:
Mit dem technischen Rationalismus entweicht der Sinn aus dem Leben.
Kein Sinn erwächst dem Leben, wo es von der kapitalistischen Organisation
erfaßt ist, und die gewonnene Freiheit ist beschränkt auf das Angebot,
das in den Sport-, Natur- und Amüsementbewegungen sich artikuliert.
Reaktionen auf diese Gesellschaftsveränderung lassen nicht lange auf
sich warten.
Musikbeispiel 3: Beispiel Hindemith: Mörder,
Hoffnung der Frauen (Anfang bis 1:51)
Man kann sagen, daß der künstlerische Expressionismus eine der ersten
Alternativbewegungen der modernen Gesellschaft war. Aus der entzweiten
Lebensform, einerseits befreit von den Göttern, andererseits gefangen
von Bürokratisierung und Verrechtlichung, setzt der Expressionismus
ganz entschieden auf eine Kritik der daraus resultierenden neuen gesellschaftlichen
Probleme. Wenn denn schon Ich und Welt sich fremd gegenüberstehen und
zugleich eine Veränderung der Welt von Einzelnen nicht bewerkstelligt
werden kann, dann sucht man den Freiraum für neue Gestaltung eben bei
sich selbst. Es war Siegfried Kracauer, der ein feines Gespür für diese
Tendenz des Expressionismus hatte. In seinem Aufsatz "Schicksalswende
der Kunst" schreibt er:
Sprecher 2:
"Die ganze Umwelt des Menschen ist zu einem Gebilde
von erschreckender Unpersönlichkeit geworden, in dem nur eines überflüssig
und beinahe wie ein Zufall erscheint: der Mensch selber und seine Seele.
(...) Losgelöst von dem Urgrund der Gemeinschaft, versklavt einem unbarmherzigen
Wirtschaftssystem, eingespannt in ein unabsehbares Netz nationaler und
sachlich-technischer Beziehungen, vermag sich der Einzelmensch nur noch
als privates Ich, als Sonderindividualität zu behaupten Die Brücken
zwischen ihm und den anderen Menschen sind abbrochen, in allen wesentlichen
Dingen bleibt er sich selbst überlassen und grauenhaft allein"
Sprecher 1:
Man rettet, was einzig noch zu retten möglich scheint: die eigene Seele.
Sie erscheint einem als noch nicht aufgesogen vom anwachsenen Rationalisierungsprozeß.
Sie ist etwas, was sich unterm Druck des Wirtschaftssystems noch frei
erhalten hat. Doch diese Position kann sie nur einnehmen, solange sie
allein ist. Hier beginnt das grausame Verhältnis zwischen Freiheit und
Einsamkeit.
Die Aufspaltung zwischen der regulären wissenschaftlich
orientierten Gesellschaft und der künstlerisch erzwungenen Vereinsamung
der Individuen war nicht aufzuhalten und setzt zugleich ein Potential
ungehemmter Produktivität frei. Die alten Götter sind verloren, die
neuen Götter der Wirtschaft und des technischen Fortschritts gelten
nicht als anbetungswürdig. Tabula Rasa, der Weg ist frei für eine neue
Kunst.
Sprecher 2:
"Von allen Seiten her werden die herrschenden Mächte
angegriffen, alterwürdige Götzen stürzen von ihrer Höhe herab und übrig
bleibt ein einziger Schutthaufen, dem widriger Verwesungsgestank entsteigt.
Dieser Zusammenbruch ohnegleichen bringt endlich die Stunde der Befreiung."
Sprecher 1:
Doch was folgt daraus? Die jungen Künstler stehen vor der Wahl, weiter
zu machen wie bisher oder aber sich dieser Freiheit auszusetzen. Das
Opfer das sie dafür bringen müssen ist der Abschied aus der Öffentlichkeit,
die schon längst unterm Bann der modernen Wirtschaft steht. Diese Entwicklung
läßt sich symptomatisch anhand des ersten Streichquartetts von Schönberg
zeigen, das seine deutsche Erstaufführung immerhin auf einem Festival
des Allgemeinen Deutschen Musikvereins 1907 in Dresden erlebte. Dessen
Wirkungsgeschichte hat Schönberg in seinem Aufsatz "Wie man einsam
wird" geschildert:
Sprecher 2:
"Dieses erste Streichquartett spielte eine wichtige
Rolle in meiner Lebensgeschichte. Einerseits verursachten die Skandale,
die es hervorrief, eine solche Anzahl von Berichten in der ganzen Welt,
daß mich mit einem Schlag ein beträchtlicher Teil der Öffentlichkeit
kannte. Natürlich wurde ich meistens als der Teufel der modernistischen
Musik angesehen, aber andererseits fingen viele von den Fortschrittlichen
unter den Musikern an, sich für meine Musik zu interessieren und wollten
mehr darüber wissen."
Musikbeispiel 4: Schönberg, Streichquartett
op. 7 (erster Satz ca. 2:17 Minuten)
Sprecher 1:
Doch es kommt nicht wirklich zu einer Rezeption des Quartetts, geschweige
zu vielen Aufführungen. Und anders ergeht es den nachfolgenden Werken
auch nicht, während noch die ersten Werke von op. 1 bis op. 6 und die
Gurrelieder, wie Martin Thrun schreibt, "sich nahezu reibungslos
in das deutsche Musikleben" einfügten. Dieser Ausschluß aus der
breiten Öffentlichkeit war zweifellos nicht beabsichtigt worden. Schönberg
schreibt in einem Brief an Busoni 1909, er wäre "viel lieber mit
dem regelmäßigen Publikum in Verbindung als mit dem außerordentlichen".
Martin Thrun konstatiert eine Wirkungskrise der Neuen
Musik seit Beginn des Jahrhunderts. Er schreibt: "Schon an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und erst Recht im Laufe der
legendären Zwanziger Jahre entfaltete sich der Ausblick auf eine
Musikkultur, die unter dem Druck disparater Anspruchniveaus einer fatalen
Segmentierung entgegenging und die entsprechenden institutionellen Wandlungen
andeutete." In dieser Zeit bildeten sich die vielen kleinen Sonderkonzerte,
Konzertinitiativen, Studios und was es an anderen Organisationsformen
sonst noch gab.
Die berühmten Versuche, den Kontakt mit dem breiten Publikum
zu halten endeten immer häufiger in Skandalen. Die Skandalaufführungen
von Strawinskys "Sacre du printemps" und den "Jeux"
von Claude Debussy 1913 in Paris und jener Wiener Skandal des Konzertes
mit Werken von Berg, Webern, Mahler, Zemlinsky und Schönberg, markieren
hörbar diesen Einschnitt, der durch den Beginn des ersten Weltkriegs
und dessen Omnipräsenz zur tiefen Wunde wurde.
Durch das Fehlen des großen Publikums aber eröffnet sich
die Chance, wirklich nur noch das Machen zu wollen, was einem
wie man so schön sagt am Herzen liegt. In Kracauers Worten:
Sprecher 2:
"Über jedewede Wirklichkeit hinweg schweift der
utopische Künstler einem Wunschlande zu, in dem, ungehemmt durch äußeren
Zwang, die Seele unermeßlich sich ausbreiten kann."
Sprecher 1:
Schaut man sich die Musikproduktion der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts
an, so wird man unschwer Belege für den freien Flug der Musik entdecken.
Mag es nun Strawinskys "Sacre du printemps" sein, mögen es
die Werke des Kreises um Schönberg sein, die Hindemithschen Einakter
oder Bartoks Drama "Herzog Blaubarts Burg", Ravels Mallarmé-Vertonungen,
Skriabins "Prometheus", um nur einige Beispiele zu nennen:
Überall spürt man eine unbändige, hemmungslose Musik, die neue Ausdrucksformen
freizusetzen in der Lage ist. Das rabiate dritte Stück aus Schönbergs
"Drei Stücken für Klavier" ist da ein nur ein prägnantes Beispiel.
Raserei, Schwankungen des Tempos, plötzliche Lautstärkenwechsel. Das
alles dient dazu, sich die Gewänder der alten Formen abzustreifen und
neue Dimensionen des Ausdrucks freizulegen.
Musikbeispiel 5: Schönberg: Drei Stücke
für Klavier op. 11, Nr. 3 ("Bewegt") Pollini Dauer 232
Für einen, dem die moderne Gesellschaft keine Heimat ist, dem gelten
auch keine Konventionen mehr etwas. Auf sich selbst verwiesen muß die
künstlerische Produktion ihre eigenen Gesetze immer neu erfinden. In
diesem Bewußtsein lebte Schönberg tatsächlich und er hat sich nicht
gescheut, diesem Bewußtsein Nachdruck zu verleihen.
Sprecher 2:
"Diese Systeme! Ich werde bei einem andern Anlaß
zeigen, wie sie nicht einmal recht das sind, was sie immerhin sein könnten,
nämlich: Systeme der Darstellung. Methoden, die einen Stoff einheitlich
einteilen, übersichtlich gliedern und von solchen Grundsätzen ausgehen,
die eine undurchbrochene Folge sichern. Ich werde zeigen, wie bald dieses
System nicht mehr ausreicht, wie bald es durchbrochen werden muß um
durch ein zweites System (das aber keines ist) angestückelt, halbwegs
die meisten Ereignisse unterzubringen. (...) Aber Kunstgesetze haben
vor allem Ausnahmen!"
Sprecher 1:
In der Musik gibt es keine ewigen Gesetze, jedes, daß man aufstellt,
wird sofort fragwürdig. Der Expressionismus sucht eben diese gesetzlose
Zone und findet sie im Vertrauen auf den inneren Ausdruck, die plötzliche
psychische Regung. Das ist der Kern des anarchischen Konzepts des Expressionismus.
Schaut man sich näher in der Musik des Schönberg-Kreises um, so findet
man die großen Schreieskapden, jene Musik mit Ausrufezeichen wie auch
das Kleingedruckte, z.B. bei Anton Webern. Das ist eine andere Seite
des Expressionismus. Die Versenkung ins Kalkül, in die kleinsten Bestandteile
musikalischer Gestaltung. Die Vereinsamung des Komponisten vor sich
selbst und seinem Spielmaterial.
Musikbeispiel 6: Webern: Cellostücke op.
11
Gewiß stellt sich diese neue Musik gar nicht so anarchisch mehr dar,
wenn man ihre musikalische Substanz analysiert. Gerade im Umkreis Schönbergs
waltet eine sehr genau kalkulierte Materialbehandlung. Jedoch wird sie
durch die musikalische Umsetzung so unkenntlich, daß sie in den Hintergrund
tritt.
Der Ausbruch in die musikalische Anarchie ist nicht unwidersprochen
geblieben. Den Kritikern erscheint dieser Ausbruch als Schritt in eine
Sackgasse. Eine Sackgasse, die weniger musikalisch als gesellschaftlich
und institutionell die Musik in die Isolation und Bedeutungslosigkeit
führte. Die Kritik ist politischer Natur. Der junge Hanns Eisler, der
einmal auch Schüler Arnold Schönbergs war, kritisiert die Elaborate
der neuen Musik als Ausdruck eines egoistischen Individualismus. Musik
sei aber eine "ausgesprochene Gemeinschaftskunst" wie er einmal
schrieb. Die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Musik ging für ihn
jedoch gegen null. Er nennt die neue Musik "borniert". Eisler
schreibt:
Sprecher 2:
"Dem Proletariat ist die moderne Musik als Privatangelegenheit
gut erzogener Leute gleichgültig. Die Bourgeoisie sucht stärkere Reiz-
und Unterhaltungsmittel. Die moderne Musik führt, wie kaum eine andere
Kunst, ein Scheindasein, das nur noch künstlich aufrechterhalten werden
kann."
Sprecher 1:
In einem Chorstück hat Eisler diese Kritik musikalisch umgesetzt. Religiösität,
Wald- und Wiesenlyrik, flaue Liebeslieder, sie werden in den "Vier
Stücken für gemischten Chor" von 1928/1929 geistreich karikiert.
Musikbeispiel 7: Eisler: Vier Stücke für
gemischten Chor op. 13. "Werte Anwesende" (4:08 Minuten)
Eislers politische Kritik der modernen Musik ist verknüpft mit der
Idee von der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft. Insofern ist eine
legitimierbare neue Musik aufgefordert Diener dieses Zwecks zu werden.
Eisler geht es um eine befreite Gesellschaft, nicht primär um eine freie
Musik. Diese Befreiung ist keine des Einzelnen in seinem privaten Kämmerlein,
sondern eine die das Verhältnis der Menschen zueinander und zu seinem
ganzen Lebensbedingungen in rechte Bild setzt. Erst dann falle einer
befreiten Gesellschaft auch eine freie Musik wie von selbst zu. Im dritten
Chorstück, der "Naturbetrachtung", heißt es daher: "Erst
wenn wir gesiegt haben, wird am Himmel ein ganz anständiges Blau sein".
Und das ist nun etwas, was den Expressionmus überhaupt nicht interessierte.
Musikbeispiel 8: Eisler: Vier Stücke für
gemischten Chor op. 13. "Naturbetrachtung" (1:47 Minuten)
Die politische Kritik kam auch von anderer Seite. Paul Hindemith machte
nach seinen expressionistischen Frühwerken einen Schritt, ähnlich dem
Eislers. Auch er betont den Gemeinschaftcharakter der Musik, den er
aber weniger im Kontext einer Gesellschaftsutopie sieht. Sie ist an
der bürgerlichen Welt orientiert, wohlmeinend, daß man eben auch durch
Musik zu einem besseren Menschen werden könne. Sein Publikum bleibt
daher das bürgerliche Konzertpublikum, auf das er durch gemäßigte, das
heißt: angemessene Musik zugeht. Die Geburt der pädagogischen Musik.
Man kann dieses künstlerische Verhalten mit der Formulierung Eislers
von "Fortschritt und Zurücknahme" umschreiben. Das heißt es
geht um den Spagatschritt zwischen musikalischer Freiheit und öffentlicher
Relevanz. Im Einzelfall hat dabei der Egoismus des Komponisten zurückzutreten.
Der Komponist wird so zum Dienstleister an einer Gesellschaft abgestempelt,
die schon längst bessere Dienstleister gefunden hat und sich auch an
dieser neuen Musik desinteressiert zeigt.
Musikbeispiel 9: Hindemith: Mathis der Mahler,
1. Satz (Anfang)
Gemeinsam ist der politischen Kritik des Expressionismus das Bestreben,
die gesellschaftliche Isolierung der neuen Musik aufzuheben. Hierin
zeigen sich diese Versuche als ungehemmt romantisch. Sie hängen dem
Glauben an, daß der moderne Gesellschaftsprozeß rückgängig zu machen
wäre. Ihre Illusion ist die Hoffnung auf die Reorganisation der Gesellschaft
von Fremden und Einzelnen in einem übergeordneten System einer gelungenen
Gemeinschaft von Gleichen. Die Resultate dieser Bewegungen im großen
Maßstab, der Nationalsozialismus und der Stalinismus, haben fürchterlich
erwiesen, daß diese neoromatische Politik zu extremen gesellschaftlichen
Deformationen führt und zur vollständigen Umkehrung des Begriffes der
Freiheit.
Für den jungen Theodor Wiesengrund Adorno ist diese politische
Umwertung nicht tragbar. In der Person Adornos schneiden sich die modernen
Entwicklungen der neuen Musik. Einst in Frankfurt Kompositionschüler
von Bernhard Sekles, und vertraut mit dem Frankfurter Expressionismus"
in dessen Kreis Hindemith gehörte, später kurzfristig Schüler Alban
Bergs und damit am Rande mit dem Schönberg-Kreis vertraut. Dort lernte
er auch Hanns Eisler kennen für dessen politischen Anspruch er Sympathien
hegte, dessen Funktionalisierungsthese er aber für problemtisch hält.
Adorno kritisiert den Expressionismus aus einer anderen Richtung. Eine
Rückführung der neuen Musik in den Schoß der breiten Öffentlichkeit
kann für ihn nicht wünschbar sein. Das hieße: die freigesetzte Kraft
des Expressionismus zu schnell ad acta zu legen.
Adorno kritisiert die neue Musik immanent. Der anarchische
Expressionismus ist für ihn nur eine Zwischenstation, der sein Defizit
vor allem darin hat, daß er die unbewußten Triebe zu sehr ins Zentrum
einer musikalischen Poetik der Plötzlichkeit setzt. Hierin wittert Adorno
eine Unterwerfung unter einen abstrakten ich-fremden Vorgang, dessen
Irrationalität nicht länger tragbar sei. Mit Bezug auf Freud kritisiert
er, daß das Unbewußte selbst keinesfalls etwas Befreites und Ursprüngliches
ist. Auch das Unbewußte ist ein Produkt der Auseinandersetzung des Menschen
mit seiner Umwelt. Am Ende sieht er sogar in diesem blinden Vertrauen
aufs Triebhafte eine Tendenz des Faschismus angedeutet. Darum spricht
Adorno von der unbedingten Notwendigkeit einer "Entzauberung des
Unbewußten". Die Freudsche Formel dafür ist: "Wo Es ist soll
Ich werden." Dann erst könne man von einer endlich befreiten Musik
reden. Damit formuliert Adorno einen abstrakten und negativen Begriff
von musikalischer Freiheit. Freiheit ist definiert als die Abwesenheit
von Zwang. Das wäre die Situation vor der sich in der Mitte der 20er
Jahre die Komponisten ästhetisch wiederfinden könnten. 1928 resümiert
Adorno, daß "keine Komponiernorm" mehr verpflichtend sei.
Alles scheint plötzlich musikalisch möglich. Aber es scheint nicht nur
möglich sondern zugleich auch zwingend geboten. Das aufgeklärte Bewußtsein
verpflichtet zur Inanspruchnahme der Freiheit. Kein Weg führt zurück
Nur aus diesem Blickwinkel heraus ist seine harsche Kritik
der neuen Musik der 20er Jahre verständlich: Fast überall wittert er
Regression und Flucht vor dieser Situation. Er lehnt den aufkommenden
Neoklassizismus ab, weil er sich an fremdem Material orientiere. Er
lehnt den Folklorismus ab, weil er auf "die naturalen Quellen des
Musizierens" zurückgreife. Die neue Sachlichkeit ist ihm suspekt
als ein Verkriechen vor der eigenen Courage. Dem musikalischen Surrealismus,
wie für Adorno zum Beispiel durch Weill repräsentiert wird, gesteht
er zu, daß er das umherliegende kaputte Material nicht neu zu organisieren
beginnt und eine neue Ordnung erstellt. Wohl aber entspringt aus ihm
keine neue produktive Idee. Es ist, um ein Wort von heute zu gebrauchen,
eine Meta-Musik: Musik über Musik.
Zu den wenigen, die sich dieser ungeheuren Last der neuen
Freiheit aussetzen, zählt Adorno die Komponisten des Schönberg-Kreises.
Doch wie kommt er zu dieser Schlußfolgerung? Hatte nicht gerade Schönberg
mit der Zwölftontechnik ein neues kompositiorisches System entwickelt,
das den Strom des ungebändigten Ausdrucks in neue befestigte Uferpromenaden
verwandelte? Adornos Antwort darauf heißt eindeutig: Nein! Im Gegenteil,
mit der Zwölftontechnik erhalte der musikalische Expressionismus eine
rationale Grundlage. Zwölftontechnik ist kein neuer Komponierstil, keine
Kompositionsanleitung, sondern vielmehr die bewußte Organisation der
latenten Ordnungen in der expressionistischen Musik Schönbergs. Die
Zwölftontechnik ist die technische Antwort auf Adornos Anspruch nach
einer "Entzauberung des Unbewußten". Auf ihrer Grundlage ist
weiterhin alles möglich. Sie wirkt nur untergründig. Mithilfe der Zwölftontechnik
werde die Musik der freien Atonalität auf ein rationales Fundament gesetzt
und somit wirklich frei. Insbesondere auf das "Dritte Streichquartett"
von Schönberg hat Adorno emphatisch reagiert. In seinen Konzertkritiken
schreibt er, es sei "von einer Gewalt, die den Hörenden den Atem
verschlug: vollends erhellte Musik." An anderer Stelle: "ein
mächtiges Werk, unerbittlich und unangreifbar wie keine Kammermusik
seit 1827, von niederzwingender Gewalt, (...) dämonisch erfüllte[s]
Gefüge der Konstruktion."
Musikbeispiel 10: 3. Streichquartett, 1.
Satz Anfang (wenigstens Exposition, oder Hauptsatz ca. 2 Minuten)
Aber die Zwölftontechnik steht nicht als alleinige Lösung des rationalen
"Musikstils der Freiheit" da. Überhaupt kommt es gar nicht
darauf an, daß es sich um zwölf Töne handelt. Im Variationssatz seines
eigenen Streichquartett verwendet er bis zu 21 Töne für eine Reihe oder
er stellt mehrere Reihen nebeneinander wie im ersten Satz des Quartetts.
Dabei wird nicht allein auf die Reihenorganisation vertraut. Immer wieder
wird diese Reihe selbst umgewandelt, und neben diesen Reihen stehen
vielfach freie Passagen, die keiner Reihenorganisation untergeordnet
sind. Absage an Konventionen auch in der rhythmischen Gestaltung, die
diffus den metrischen Schwerpunkten auszuweichen sucht.
Musikbeispiel 11: Adorno, Streichquartett,
1. Satz Anfang (wenigstens Exposition, oder Hauptsatz min. 1:46)
Dennoch war die ausgereifte Reihentechnik nicht das alleinige Komponierverfahren,
das eine rationale Expressivität gerantierte. Ernst Bloch hat dazu einen
Begriff ins Spiel gebracht, der sehr schön Rationalität und Expressivität
zusammenfügt: "Expressionslogik". Ausdrucksvermögen und rationaler
Nachvollzug werden damit in Eins gesetzt. Man kann sich das mit dem
Bild des Komponisten vorstellen, der als Steuermann im Meer der Klänge
umhertreibt. Er soll das "Triebleben der Klänge" bewußt wahrnehmen
und dann je nach "innerer Logik" die Segel setzen. Ein so
aufgefaßtes "Triebleben der Klänge" vermittelt so zwischen
Willkür, unbewußtem Trieb und Vernunft. Auch für diese Art des Komponierens
hat Adorno ein Beispiel parat. Er nahm diese Art der Musik bei Ernst
Krenek wahr. Dessen zweite Sinfonie erschien ihm unerhört, musikalisch
sehr weit ausgehört, sich selbst forttreibend ohne einem vorrangigen
Komponierprinzip verpflichtet zu sein. Über den Schluß der zweiten Sinfonie
schrieb Adorno:
Sprecher 2:
"Der letzte Satz, ein Adagio, endete ... mit einem
über alles tolerierte Maß hinausgehenden Fortissimo, einer dissonanten
Akkordfortschreitung der Blechbläser, Gleichnis eines auf die Erde von
außen zukommenden, gähnend schwarzen Abgrundes. Solche Panik ging seitdem
wohl von keiner Musik mehr aus."
Musikbeispiel 12: Krenek 2. Sinfonie, Schlußsatz
ab Minute (13:30) / 17:06 bis 21:04 (Vier Minuten)
Sprecher 1:
Das sind die Eckpunkte der von Adorno angeschauten Musik, die in gewisser
Weise einen "Musikstil der Freiheit" anvisieren. Später wird
Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik" aufzeigen wollen,
daß die Zwölftontechnik kraft ihre sturen Rationalität diese gewünschte
Befreiung und Entfesselung der Musik nicht leisten kann, sondern, im
Gegenteil, ihr Tod ist.
Adorno war aber nicht der einige dezidierte Autor, der
einen freien Musikstil wünschte und für möglich erachtete. Schon Jahre
zuvor forderte Ferruccio Busoni in seinem Entwurf einer neuen
Ästhetik der Tonkunst".
Sprecher 2:
Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden
ihre Bestimmung. (...) Der Schaffende sollt kein überliefertes Gesetz
auf Treu und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber
von vornherein als Ausnahme betrachten. Er müßte für seinen eigenen
Fall ein entsprechendes eigenes Gesetz suchen, formen und es nach der
ersten vollkommenen Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei
einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen."
Sprecher 1:
Es ist klar: Konventionen und Routine sind die Feinde einer freien
Kunst. Auf diese Weise kritisiert Busoni die Musik seiner Zeit. Aber
er kommt zu einer absolut neuen Schlußfolgerung. In der logischen Abfolge
seiner Argumentation ist sie zwingend: Zunächst heißt es:
Sprecher 2:
"So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp
seine Ausdrucksform, daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motto gibt,
auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßte, so daß es zu gleicher
Zeit mit dem anderen gespielt werden könnte. (...) Plötzlich, eines
Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst
an unseren Musikinstrumenten scheitert. (...) Wenn Schaffen,
wie ich es definerte, ein Formen aus dem Nichts bedeuten
soll (und es kann nichts anderes bedeuten), wenn Musik
(dieses habe ich ebenfalls ausgesprochen) zur Originalität,
nämlich zu ihrem eigenen Wesen zurückstreben soll ( ein Zurück,
das das eigentliche Vorwärts sein muß); wenn sie
die Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und
in schöner Nackheit prangen soll, diesem Drange stehen die musikalischen
Werkzeuge zunächst im Wege."
Sprecher 1:
Zu den Werkzeugen sind zuvorderst die Instrumente zu
zählen, die in eindeutiger Weise Inhalt und Ausdruck transportieren.
Man denke dabei nur an die Instrumentationslehren von Berlioz und Strauss.
Auch wenn es nicht direkt ausgesprochen ist, sind mit dem Busonischen
Ansatz die Tore zur Geräuschwelt und zu neuen Instrumenten geöffnet.
Zum anderen ist aber auch das Werkzeug Tonsystem" erschöpft.
Busoni weist in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung von neuen Tonleitern
hin, die durch weitere Unterteilungen zu Drittel-, Viertel-, und Sechsteltönen
ausgestuft werden. Dadurch wird nicht nur eine erhebliche höhere Anzahl
von Tonkombinationen möglich sondern auch jede alt-hergebrachte Harmonielehre
aus den Angeln geworfen. Beides sicherlich im Sinne des Erfinders. Das
ist die technische Vision von Ferruccio Busoni gewesen, der anders als
Adorno keine realisierten musikalischen Beispiele benennen kann. Er
selbst hat seine Vorstellungen in eigenen Werken kaum verfolgt. Ein
erstes frühes Beispiel, das an die Ideen Busonis anknüpft ist Walter
Ruttmanns Hörstück Weekend" aus dem Jahre 1930. Die Musikalität
dieses elfminütigen Stücks besteht in der Verknüpfung von Musik und
Nicht-Musik, die ihre Logik aus der Montage von Assoziationsketten zieht.
Es gibt nur noch vorfabriziertes Material, das spielerisch montiert
ist.
Musikbeispiel 13: Ruttmann: Weekend (ca.
3 Minuten)
Denkt man dagegen an die faktische Realisation insbesondere in der
damaligen Mikrotonalität, dann folgte man nur der einen Idee Busonis.
Die musikalische Poetik blieb dagegen weitgehend die alte, koventionelle.
Viele der damals entstandenen Kompositionen klingen wie reine Harmonieübungen,
bei denen das Reizende des neuen Klanges zum Selbstläufer geworden ist.
Die Neuheit des Busonischen Ansatzes wird durch eine andere
Stelle aus seiner Schrift noch deutlicher, das Visionäre rückblickend
noch eindrücklicher. Er schreibt:
Sprecher 2:
"Was unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am
nächsten rückt, sind die Pause und Fermate. (...) Die spannende Stille
zwischen zwei Sätzen, in dieser Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen,
als der bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag."
Sprecher 1:
Hört man sich zum Beleg dieser These einmal Luigi Nonos "A Carlo
Scarpa" an, dann mag man erahnen, was Busoni vorschwebte.
Musikbeispiel 14: Nono: A Carlo Scarpa (Ausschnitt
3:05 Minuten)
Diesem Ansatz nach zeigt sich der Busonische Entwurf einer neuen
Ästhetik der Tonkunst" der kritischen Auseinandersetzung Adornos
mit dem Expressionismus überlegen. Für Adorno war die traditionelle
Musik, mithin die historische Entwicklung der Musik von Bach bis Schönberg
ein unumstößliches Faktum. Adorno dachte auch nur" historisch,
das heißt in einer Folge von Geschichtsschritten. Eine selbständige
Neusetzung kraft gedanklicher Anstrengung, kam für ihn nicht infrage.
Das ist die "zweite Natur" der Adornsche Theorie. In der Tat
ist mit der Adornoschen Theorie der Aufhebung von Konventionen, nicht
annähernd alles erfaßt worden. Wie selbstverständlich ging Adorno von
der gewöhnlichen Notation, der üblichen Spielart der Instrumente aus.
Es gibt also zu Beginn unseres Jahrhunderts zwei zentrale
Bestimmungen musikalischer Freiheit. Die eine ist vorrangig technischer
Natur. In ihr herrscht das Bestreben vor, den Gesichtskreis dessen,
was unter Musik zu subsumieren ist, immer weiter zu fassen. Nach der
Aushebelung der musikalischen Formenlehre, nach der Aushebelung des
chromatischen Tonsystems, nach der Aushebelung der konventionellen Instrumentenbehandlung,
schließlich des Einbezugs neuer Instrumente, des Einbezugs des Raumes
als dem Medium, das dem Klang die Form verleiht, bleibt langsam aber
sicher nichts mehr übrig. Alles neue wird sofort in den Kanon der möglichen
Techniken aufgenommen.
Die andere Bestimmung musikalischer Freiheit, ist ästhetischer
Art. Sie kulminiert in der Frage. Woher soll man eigentlich noch die
Töne nehmen? Wie läßt sich mit ihnen noch schalten, ohne in Geleise
des Konventionellen zu geraten? Und gerade wenn man diese Frage ernst
nimmt, wird man feststellen müssen, daß es keinen wirklichen Ausbruch
aus den Konventionen gibt, weil in allem die Geschichte waltet. Die
Tabula Rasa als Ausgangspunkt für die musikalische Produktion ist eine
Fiktion. John Cage hat das erst vollkommen zu Bewußtsein gebracht. Die
Frage "woher soll man die Töne nehmen?" wird aufgebogen, indem
sie ausgeschaltet wird. Sie wird ausgeschaltet, indem man gar nicht
versucht, eine Ordnung in das Urchaos der Töne zu bringen. Das Komponieren
wird vom komponierenden Subjekt verlagert in ein subjektloses sich an
den Zufall überlassen. "Der Zufall werde es richten", das
ist der Kern seiner Antwort. Der Komponist wird zum Mittelsmann zwischen
Erfindung von Operationen, die Musik erzeugen und der resultierenden
Musik selbst. Diese schaut ihn ihn dann mit einem neuen Gesicht an.
In den Music of Changes für Klavier findet man eine frühe Station solcher
Musik. Es gibt keine kompositorische Intention, nur den Wunsch, die
Musik sich selbst zurückzugeben.
Musikbeispiel 15: Music of Changes (ca.
2 Minuten)
Diese Antwort von John Cage ist so radikal, daß mit ihr der Begriff
von kompositorischer Freiheit gänzlich hinfällig zu werden droht.
Was also bleibt übrig von dem anvisierten Musikstil der
Freiheit? Die Antwort, die die siebziger und achtziger Jahre gaben,
als man eine Beliebigkeit des Tuns als höchste Form der Freiheit pries,
lief in die Leere. Sie führte zu Nivellierung aller künstlerischer Produktion
und zu einer billigen Annäherung an die Populärkultur, die nebenbei
auf diese Annäherung nie wartete. Mit dieser postmodernen Antwort machte
man deutlich, daß wirklich alles egal ist. Freiheit? Na klar, anything
goes.
Was also bleibt übrig von dem Musikstil der Freiheit?
Die eine Antwort heißt: Nichts. Die andere heißt: Etwas; Weniges. Die
Frage nach musikalischer Freiheit selbst führt in die Irre, scheint
gar nicht richtig gestellt. Man kann sagen, daß die gegenwärtige Musik
vor einer großen Mauer von Aporien steht, die nicht mehr per Dekret
sich ausgrenzen lassen. Die Musik steht zwischen Notwendigkeit und Beliebigkeit,
zwischen Einsamkeit und Öffentlichkeit, zwischen Geschichtlichkeit und
Zukunft, zwischen konventioneller Sprache und privater. Dieser Berg
von Fragen kann zur vollständigen Lähmung der avancierten Musik führen,
so daß Adorno das Verstummen der Musik als letzte Konsequenz in Erwägung
zog.
Sprecher 2:
"Nimmt man aber das Komponieren todernst, so muß
man schließlich fragen, ob es nicht insgesamt heute ideologisch wird.
Man muß deshalb unmetaphorisch und ohne den Trost, so könne es nicht
bleiben, die Möglichkeit des Verstummens ins Auge fassen. Was Beckett
in seinen Dramen und vor allem in seinen Romanen ausdrückt, die manchmal
rauschen wie Musik, das hat seine Wahrheit für die Musik selbst. Vielleicht
ist nur noch eine möglich, die an diesem Äußersten, am eigenen Verstummen,
sich mißt."
Sprecher 1:
Es bleibt somit nur diese Konsequenz oder aber das Eingeständnis zur
prinzipiellen Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit des Komponierens.
An diesen Punkt kann man einzig noch anknüpfen. Und das heißt, ganz
im Kantischen Sinne: Allein der kritische Weg ist noch offen."
Damit hat die Frage nach musikalischer Freiheit ihr Terrain gewechselt.
Es geht nicht mehr wie in Adornos frühen Jahren um eine Verpflichtung
zur Freiheit, sondern um eine andauernde selbstkritische Reflexion des
Standes der musikalischen Mittel. Dann werden plötzlich auch Begriffe
wie Tonalität" neu besetzbar. In György Kurtags Quasi
una fantasia" läßt sich die Reflexivität sehr schön nachvollziehen.
Eigentlich besteht der Anfang des Stückes nur aus Tonleitern, meistens
absteigend, gegen Schluß aufsteigend, die weder nun rhythmisch besonders
komplex verschachtelt sind noch sonst durch irgendwelche Mittel musikalisch
aufgepeppt werden. Im Hintergrund werden die Tonleitern durch ein Geflirr
von Schlagzeug-Instrumenten begleitet.
Musikbeispiel 16: Kurtag: Quasi una fantasia
Introduzione (1:41)
Die Nackheit des musikalischen Gedankens setzt ein so simples Verfahren
auf eine neue sprachliche Ebene, verleiht der Leere einen Sinn. Aus
Tonleitern wird so Musik die neu ist, und Musik, die auch frei ist.
Wenn es stimmt, daß die Tonalität kein Naturgesetz ist, dann ist es
auch die Atonalität nicht. Das auch macht der Kurtagsche Umgang mit
Musik deutlich. Er entreißt die Tonalität ihrer Verdinglichung. Er macht
sie uns zugänglich, indem er sie neu konstruiert. Das Banale bleibt
nicht länger banal. Das Naive bleibt nicht länger naiv. Hört man sich
in diesem Zusammenhang einmal Strawinskys "In memoriam Dylan Thomas"
an, dann wird man schnell gewahr, daß hier ähnliche Kräfte wirken. Die
musikalische Sprache ist auf wenige Laute beschränkt, deren Ausdruckgewalt
sich an ihrer Kälte mißt. Da ist kein Platz für Duselei, da ist aber
auch nicht das Subjekt verschieden, das gar nichts mehr wagt. Das ist
eine neue Form der Nietzscheanischen Umwertung aller Werte".
Musikbeispiel 17: Strawinsky: In memoriam
Dylan Thomas
Es geht um die bewußte Wahrnehmung des je schon Vorhandenen und vor
allem um die kritische Distanz zum Vorgegebenen. Man muß dazu eigentlich
nur die alte Adornosche Formulierung von der Rationalisierung des Unbewußten
neu umschreiben: Kompositorische Freiheit entfaltet sich dann in der
kritischen Rationalisierung des geschichtlichen Musikmaterials. Genau
das hatte Strawinsky mit seiner Musik im Kopf. Es ist nicht so, daß
Strawinsky ehemals klassisches Material a la neoneo in Gestalt brachte,
sondern er veränderte auch damals schon den Blick dieser Musik, den
sie uns zuwirft, wenn wir sie anschauen.
Ja, es gibt nichts Selbstverständliches, nichts Naives,
nichts Jungfräuliches mehr. Das ist vielleicht das Credo für den freien
Musikstil" der Gegenwart. Nur wenn man sich darüber im Klaren bleibt,
dann ist die Lähmung vor der Verantwortung des Komponisten nicht absolut,
dann gibt es Musik auch nach dem Verstummen. Aber es wird keine Musik
mehr geben, die eine positive Freiheit auszupinseln in der Lage sein
wird. Gerade die produktivsten Komponisten der Gegenwart sind sich darüber
im klaren. Helmut Lachenmann sagt:
Sprecher 2:
Komponieren, so verstanden, kann weder heißen,
sich naiv vertrauensvoll der bereits in der Gesellschaft expressiv funktionierenden
Mittel zu bedienen, noch ins Land der unbekannten Länge auszuweichen,
sondern muß heißen: Situationen der veränderten, befreiten
Wahrnehmung suchen und im Hinblick darauf immer wieder auf der kommunikativ
verwüsteten Insel dieser unserer sprachfertig-sprachlosen Zivilisation
Robinson Crusoe spielen und sich so zugleich auf das existentielle
Abenteuer des sich in seinen eigenen Trümmern erkenenden bürgerlichen
Ichs einlassen."
Sprecher 1:
Von hier aus führt der Weg zurück zur eingangs gehörten Musik Detlev
Glanerts, der einer historischen Jahrmarktsorgel neues Leben einhaucht
und damit einer weitere Bestimmung, die im Sumpf des Rationalismus liegen
blieb neue Geltung verschafft. Denn die Selbstreflexion hat auf ihrer
Rückseite eine enorme Überforderung des Subjekts zur Folge, die unterschlägt,
daß der Mensch nicht als Erwachsener auf die Welt kommt, sondern im
spielerischen Umgang mit seiner Umgebung diese für sich neu schafft
und erkennt. Deshalb ist Lachen keine Schande, wenngleich sie nicht
unbedingt mit Erkenntnis verbunden sein muß. Schillers Diktum aus den
den ästhetischen Briefen wird man recht geben dürfen:
Sprecher 2:
Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und
er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."
Musikbeispiel 18: Glanert: Kleine Kuddel-Daddeldu-Musik
- Musikbeispiel 1: Detlev Glanert: Kleine Kuddel-Daddeldu-Musik (2
Minuten) *
- Musikbeispiel 2: Mahlers dritte, Satz Nr. 4, (die letzten vier Minuten
) eventuell unter dem Text schon einblenden (ab Absatz zuvor), bis
etwa eine Minute des fünften Satzes *
- Musikbeispiel 3: Beispiel Hindemith: Mörder, Hoffnung der Frauen
(Anfang bis 1:51) *
- Musikbeispiel 4: Schönberg, Streichquartett op. 7 (erster Satz ca.
3 Minuten) *
- Musikbeispiel 5: Schönberg: Drei Stücke für Klavier op. 11, Nr.
3 ("Bewegt") Pollini Dauer 232 *
- Musikbeispiel 6: Webern: Cellostücke op. 11 *
- Musikbeispiel 7: Eisler: Vier Stücke für gemischten Chor op. 13.
"Werte Anwesende" (4:08 Minuten) *
- Musikbeispiel 8: Eisler: Vier Stücke für gemischten Chor op. 13.
"Naturbetrachtung" (1:47 Minuten) *
- Musikbeispiel 9: Hindemith: Mathis der Mahler, 1. Satz (Anfang)
*
- Musikbeispiel 10: 3. Streichquartett, 1. Satz Anfang (wenigstens
Exposition, oder Hauptsatz) *
- Musikbeispiel 11: Adorno, Streichquartett, 1. Satz Anfang (wenigstens
Exposition, oder Hauptsatz) *
- Musikbeispiel 12: Krenek 2. Sinfonie, Schlußsatz ab Minute (13:30)
/ 17:06 bis 21:04 (Vier Minuten) *
- Musikbeispiel 13: Ruttmann: Weekend (ca. 3 Minuten) *
- Musikbeispiel 14: Nono: A Carlo Scarpa (Ausschnitt 3 Minuten) *
- Musikbeispiel 15: Music of Changes (ca. 2 Minuten) *
- Musikbeispiel 16: Kurtag: Quasi una fantasia Introduzione (1:41)
*
- Musikbeispiel 17: Strawinsky: In memoriam Dylan Thomas *
- Musikbeispiel 18: Glanert: Kleine Kuddel-Daddeldu-Musik *
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